Neuigkeit | Kriminalprävention

Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen

Verbrechen und Kriminalität gehören zum Unterhaltungsprogramm in den Medien und zur Realität auf deutschen Straßen. Ein Interview mit Prof. Dr. Marc Coester über Strategien gegen ein Alltagsphänomen.

20.06.2023

Studiengangsleitung Master Kriminlogie und Kriminalprävention
Dr. Marc Coester ist Professor für Kriminologie an der HWR Berlin. Prävention, so sagt er, ist langfristig gut investiertes Geld und fordert mehr Professionalisierung und Qualifizierung. Foto: Kirsten Breustedt, Berlin

20.06.2023 - HWR Pressemitteilung 32/2023

  • Prävention ist langfristig gut investiertes Geld.
  • Wir brauchen mehr Professionalisierung und noch mehr Qualifizierung.
  • Kriminalität und Prävention müssen stärker aus einer opferorientierten Perspektive betrachtet werden.

Zur Person

Prof. Dr. Marc Coester ist Professor für Kriminologie am Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) und wissenschaftlicher Leiter des Masterstudiengangs Kriminologie und Kriminalprävention an der Berlin Professional School, dem Weiterbildungsinstitut der Hochschule. Der Erziehungswissenschaftler ist Experte für Kriminalitätsprävention, Hasskriminalität und Jugendgewalt, im Programmbeirat des Deutschen Präventionstags und Vorstandsvorsitzender des Opferhilfe Berlin e. V.

Prof. Coester, welchen Krimi habe Sie zuletzt gesehen oder gelesen, welchen Crime Podcast gehört?

Da muss ich gestehen, dass ich ein echter Medienjunkie bin. Ich höre sehr gerne den Verbrechen Podcast von ZEIT ONLINE oder den englischen Podcast „Crime Junkie“ und binge mich durch die True-Crime-Serien der Streamingdienste wie „I am a Killer“ oder „Mindhunter“ auf Netflix. Biografien von Massen- und Serienmörder haben mich außerdem immer interessiert, keine Ahnung, warum. Da will ich mal nicht tiefer graben (lacht).

Wie hätten Straftaten, um die es sich in diesen Serien dreht, durch Gewalt- und Kriminalitätsprävention verhindern lassen?

Wir haben heute ein sehr gutes und evidenzbasiertes Verständnis davon, welche Risikofaktoren in welchen Konstellationen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich Menschen abweichend, kriminell oder gewalttätig verhalten. Gerade Faktoren, die sehr früh, häufig, kumuliert und in einem Umfeld ohne soziale Ressourcen auftreten, bedingen oft entsprechende Karrieren. Jetzt kommt das Erstaunliche: In den genannten True-Crime-Medien, in den Biografien von schweren Gewalttätern (und seltener auch Gewalttäterinnen) finden sich retrospektiv immer wieder dieselben Risikofaktorenkonstellationen. Mit entsprechenden Präventionsprogrammen, die früh, multidisziplinär und langfristig angelegt sind, hätte man solche Verläufe verhindern können. Da geht es zum Beispiel um sehr gut evaluierte Familien- und Elterntrainingsprogramme, Programme zur Förderung personaler, emotionaler und sozialer Kompetenzen oder Gewaltprävention in der Schule. So gesehen bin ich ein Fan von früher, primärer Prävention.

Weshalb faszinieren Verbrechen so sehr?

Ich glaube, mal psychologisch oder gar philosophisch gesprochen: Beschreibungen von Verbrechen nehmen uns mit an einen Abgrund, der sich in uns selber auftut. In den detaillierten Beschreibungen steht der Zuhörer oder Zuschauer davor, schaut hinab und erkennt, dass ihn im Grunde nicht viel von dem Täter unterscheidet. Das Potential ist da, der Weg und die Umstände waren anders. Der Philosoph Immanuel Kant hat gesagt, der Mensch ist aus krummem Holz gemacht. Naja, so ganz beweisen kann man diese Aussagen nicht, aber sie klingen gut (lacht).

Mal weg von den Aufsehen erregenden und medialen Taten. Kriminalität ist in vielen unterschiedlichen Formen ein alltägliches Phänomen in der Gesellschaft. Wie passt die Prävention da ins Bild?

Wir müssen in der Gesellschaft noch viel mehr und an allen Orten Prävention denken. Ich habe das schon gesagt: Wir kennen heute die Ursachsen von Kriminalität, wir haben ein breites Wissen an evaluierten und evidenzbasierten Programmen und Projekten entwickelt. Wir kennen kommunale Präventionsstrategien, die alle wichtigen Partner einbinden, vernetzen und immer wieder erfolgreich eingesetzt werden. Wir haben ein dichtes Netz an Präventionsgremien, die jeden Tag in unterschiedlichsten Feldern anpacken. Wir arbeiten mit potentiellen Tätern und Opfern, aber auch im Bereich der technischen und städtebaulichen Prävention. Alles da.

Prävention ist langfristig gut investiertes Geld.

Und trotzdem…?

Gleichzeitig wissen wir aus Kosten-Nutzen-Analysen, dass Kriminalität wahnsinnig teuer ist. Da sind die Kosten für medizinische Versorgung von Opfern, Arbeitsausfälle, Kosten für Strafverfolgungsbehörden. Ein Tag Strafvollzug kostet etwa 200 Euro und so weiter. Prävention ist langfristig gut investiertes Geld. Leider funktioniert Kriminalpolitik oft so, dass besonders dann agiert wird, wenn es wieder mal eine spektakuläre Tat gegeben hat. Dann hört man die übliche, repressive Rhetorik – mehr Polizei, längere Haftstrafen und so weiter – und geht dann wieder zum Tagesgeschäft über. Die Prävention muss noch selbstbewusster werden und ihren Wert besser kommunizieren.

Wie verändert sich Kriminalprävention?

Es gibt immer wieder neue Kriminalitätsphänomene, das macht die Kriminologie so spannend. Ein Verständnis dieser Phänomene ist die Voraussetzung, auch präventiv in diesem Feld zu handeln. Gleichzeitig kann die Prävention bei den Tätern, Opfern, dem Umfeld, der Situation oder auf der technischen Ebene ansetzen. Somit ergeben sich immer wieder neue, interessante Kombinationen und Ansätze.

Könnten Sie das bitte an konkreten Beispielen festmachen?

Wenn man sich um die Mobbingopfer im Internet kümmert und hier gegebenenfalls auch einen digitalen Zugang wählt, werden andere Methoden angewendet, als wenn ich mir überlege, wie ich eine Parkanlage so gestalte, damit sich Menschen dort sicherer fühlen und weniger Tatgelegenheiten entstehen können. Trotzdem meine ich, dass sich die grundlegenden Prinzipien der Prävention in allen alten und neuen Ansätzen wiederfinden: Prävention will fördern, helfen, stärken, sensibilisieren, aufklären, informieren oder trainieren. Also, die Phänomene ändern sich, die Methoden der Prävention entwickeln sich weiter, aber die Grundlagen präventiven Handelns bleiben bestehen.

Die Prävention muss noch selbstbewusster werden und ihren Wert besser kommunizieren.

Es wird von Opferverbänden oft kritisiert, dass der öffentliche Fokus auf den Straftätern und Straftäterinnen liegt. Was müsste sich aus Ihrer Sicht für die Opfer von Gewalt verbessern?

Tatsächlich ist es so, dass sich Staat und Gesellschaft schon immer viel mehr für den Täter und seine Strafe und weniger für das Opfer und sein Leid interessiert haben. Während es beispielsweise Kriminalitätstheorien schon ein paar Hundert Jahre gibt, ist die Viktimologie, die Opferforschung, erst in den letzten etwa 60 Jahren gewachsen. Erst seither fragen und forschen wir, was Straftaten für die Opfer bedeuten, welche Folgen daraus entstehen, wie sie damit umgehen und was sie sich als Reaktion darauf wünschen. Während Unbeteiligte oftmals härteste Strafen für einen Täter fordern, wünschen sich Opfer viel eher eine Wiedergutmachung, eine Entschuldigung ein klärendes Gespräch mit dem Täter.

Den Täter zu bestrafen löst nicht die Probleme des Opfers.

Unterm Strich müssen wir Kriminalität – und das gehört auch zur Prävention – mehr noch aus einer opferorientierten Perspektive betrachten. Der Täter-Opfer-Ausgleich ist eine Möglichkeit, im Strafverfahren solche Elemente einzubauen. Ein anderes Beispiel ist der proaktive Ansatz, der zur Zeit in Berlin erprobt wird: dabei wird jedem Opfer im Polizeikontakt die Möglichkeit eröffnet, dass sich eine Servicestelle im Nachgang zeitnah meldet, um von dort aus Hilfsangebote zu unterbreiten. In der Servicestelle sitzen geschulte Mitarbeiter*innen, die im Gespräch Bedarfe gemeinsam mit dem Opfer entwickeln und dann gegebenenfalls an einschlägige Hilfsorganisationen weiterleiten.

Theoretisch ist Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, auch vielen Verantwortlichen klar, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Woran hakt es bei der Umsetzung?

Grundsätzlich muss man zunächst anmerken, dass sich die Kriminalprävention in den letzten 30 Jahren deutlich entwickelt hat und mittlerweile die schon erwähnte Präventionslogik immer weiter in das Bewusstsein von Staat und Gesellschaft „sickert“. Um ein Beispiel zu geben, der Deutsche Präventionstag ist ein jährlicher Präventionskongress, der 1995 das erste Mal in Lübeck stattfand und damals etwa 250 Besucher*innen zählte. Heute ist er der weltweit größte Präventionskongress mit bis zu 4 000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus Deutschland und der Welt.
Sie und andere Forscher*innen stellen fest, dass die kriminalpolitische Logik bis heute oftmals eher repressiv als präventiv funktioniert.

Wie gesagt, in ruhigen Zeiten spricht man nicht darüber. Dann kommt ein medial Aufsehen erregender Fall und es wird von allen Seiten mehr Härte, mehr Polizei, es werden längere Haftstrafen, neue Gesetze und so weiter gefordert. Die Prävention muss mehr Selbstbewusstsein wagen. Wir wissen, was wirkt und was es langfristig spart. Wir brauchen mehr Professionalisierung und noch mehr Qualifizierung in der Prävention. Je komplexer das Arbeitsfeld wird, desto mehr angewandtes Wissen ist notwendig. Das war auch die Grundidee für unseren Masterstudiengang Kriminologie und Kriminalprävention.

Wir brauchen mehr Professionalisierung und noch mehr Qualifizierung in der Prävention.

Kriminalprävention ist ein wichtiges Thema für die Polizei, schon in der Ausbildung und im Studium. Aber nicht nur. Welche Behörden und gesellschaftlichen Gruppen müssen hier zusammenarbeiten?

Mittlerweile finden sich Fachleute der Prävention an unterschiedlichsten Stellen wie der Kommunalverwaltung (vor allem in Ordnungsbehörden, in Jugendämtern), in Präventionsgremien, bei der Justiz, in der Kita, Schule und in der Sozialen Arbeit, bei freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, in Vereinen, in der Wirtschaft, Kommunalpolitik, in den Medien, in Ministerien, Behörden, Verbänden oder Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen. Und es ist gut, dass sich auch die Polizei in Deutschland immer mehr diesem Thema annimmt und es in unterschiedlichsten Ansätzen und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft angeht. Kriminalprävention lebt von einem breiten und heterogenen Netzwerk.

Kriminalprävention lebt von einem breiten und heterogenen Netzwerk.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren beruflich mit den Schattenseiten der Gesellschaft. Was lässt Sie weiter an das Gute im Menschen glauben?

Mit Schattenseiten der Gesellschaft kann ich mitgehen. Bei der Frage nach Gut und Böse fällt es mir schwerer. Wenn der Mensch auf die Welt kommt, ist er sich doch ziemlich ähnlich, in jedem Fall ist jedes Baby und jedes Kind unschuldig. Was dann folgt, können sie nicht beeinflussen.

Ob man von den Schattenseiten der Gesellschaft getroffen wird oder das Glück hat, auf der Sonnenseite zu stehen, ist ziemlich zufällig und prägt den Menschen letztendlich in seinen Werten, Einstellungen, Entscheidungen und Handlungen. Ich habe irgendwo mal ein Sprichwort gelesen, man solle hundert Schritte in den Schuhen eines anderen gehen, wenn man ihn verstehen will. Das ist auch das Motto einer verstehenden Kriminologie und prägt auch die Kriminalprävention. Sie will in schwierigen Lebenslagen ein Angebot machen und damit ungünstige Verläufe in der Zukunft vermeiden.

Ob man von den Schattenseiten der Gesellschaft getroffen wird oder das Glück hat, auf der Sonnenseite zu stehen, ist ziemlich zufällig und prägt den Menschen letztendlich in seinen Werten, Einstellungen, Entscheidungen und Handlungen.

Prof. Coester, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).

Im Oktober 2023 startet an der Berlin Professional School der HWR Berlin der berufsbegleitende Masterstudiengang „Kriminologie und Kriminalprävention. Die Bewerbungsfrist läuft bis 15. Juli.